Patagonien Exocet

Exocet

Nach der Besteigung der Ponicenot hat sich schnell der Alltag in El Chalten wieder eingestellt. Geprägt vom auschecken des Wetterberichts über möglichst viele Kanäle und der möglichst positiver Interpretation der verschiedenen Parameter, war diesmal mit der Standard Floskel, “in fünf Tagen kommt ein gutes Fenster”,nichts mehr zu retten. Für Weihnachten sind 50 cm Schnee vorausgesagt und die Vorhersage verhärtet sich von Tag zu Tag.

Timo, bereits wieder ausgerastet von der letzten Tour und schon etwas unrund, oder besser gesagt voll Tatendrang, studiert den bei weitem nicht perfekten Wetterbericht. Er findet ein kleines Zeitfenster in dem vielleicht geklettert werden kann, wir treffen jedoch keine konkreten Vorbereitungen.

Wetterbericht

Am nächsten Morgen schlafen wir uns richtig aus und werden von unseren Schweizer Nachbarn um 11 Uhr geweckt. Ohne richtiges Frühstück geht es gleich ans Wetter checken. Das kleine Fenster, dass sich Timo ausgedacht hat, scheint noch zu bestehen. In der Nacht soll es sehr windig werden, untertags aber einigermaßen okay. Das genügt Timo allemal. Für mich ist es fast etwas zu unsicher, bedenkt man die circa sieben Stunden einfache Wegstecke ins Nipo Nino Camp mit der Aussicht auf höchstwahrscheinlich keiner, nicht mal einer kleinen Tour. Da der Wetterbericht für die Zeit danach noch schlechter aussieht und  Timo voller  Tatendrang ist, stimme ich den Aufbruch doch zu. Immerhin wird es eine gewaltige Ausdauereinheit, mit dieser Einstellung packe ich meinen Rucksack. Vorläufiges Ziel und wahrscheinlicher Umkehrpunkt: Nipo Nino Camp.

Geringe Erwartungshaltung

Für meinen Geschmack etwas spät für einen sechs bis sieben Stunden Marsch, starten wir um 14:30 von El Chalten. Nach sieben Stunden ist die erste Wanderetappe absolviert. Es hat sich bereits gelohnt! Der Weg ins Nipo Nino Camp war auf Teilstecken nicht einfach und die Moräne nicht ungefährlich. Dafür sind die gewonnen Eindrücke einzigartig. Wir sind motiviert, die Erwartungshaltung ist gering. Im Camp sprechen wir die Tourenmöglichkeiten. Wir haben genügend Material mit, so dass wir uns in der Tourenwahl nicht besonders einschränken müssen. Relativ schnell fällt die Entscheidung alles auf eine Karte zu setzen, wir versuchen die Exocet. Die Linie kann leider vom aus Camp nicht eingesehen werden. Der Zustieg ist lang und die Route sollte eher früh morgens geklettert werden, da die Tageserwärmung ein bekanntes Problem ist bei der Ausrichtung.

Eine Stunde Schlaf

Wir entscheiden uns bald zu starten, bald heißt in diesem Fall Mitternacht. Als die Entscheidung steht ist es bereits nach 22 Uhr. Bis wir mit Wasserkochen und Essen fertig sind ist es 23 Uhr. Zeit schlafen zu gehen, morgen wird ein langer Tag. Als um 00:04 der Wecker läutet will keiner von uns aufstehen. Nach zwanzig Minuten rafft sich Timo auf, danach komme auch ich langsam in die Gänge. Der Gedanke, liegen zu bleiben und vielleicht eine kurze Felsroute zu klettern, gefällt mir.

Aufbruch

Timo argumentiert sehr gut und so stolpern wir bereits um ein Uhr über den schuttbedeckten Gletscher Richtung Col Standhardt. Der Dunkelheit zum Trotz finden wir einen guten Weg durch das Gletscher- und Spalten-Labyrinth. Bei Sonnenaufgang befinden wir uns circa auf Höhe des Bergschrundes, dieser ist leicht zu überwinden. Es folgt die Schnee-Eisrinne zum Col hinauf. Oben am Col weht der Wind sehr stark und unablässig. Nach zwei Seillängen mit mehreren kleinen Plendlern, die Timo zügig vorsteigt, sind wir erstmal weg vom Wind. Wir befinden uns auf der Lee Seite. Es ist angenehm windstill im Vergleich zum Col. Es folgen ein paar nicht zu schwere Längen durch Fels und Schnee und schon stehen wir am Anfang des imposanten Eiskamins, dem Markenzeichen der Exocet. Ohne Probleme führt Timo durch die Längen des Eiskamins immer darauf bedacht, so wenig wie möglich Eisschlag auszulösen. Jeder einzelne Eisbrocken würde mich wohl oder übel treffen. Die Kletterei ist anspruchsvoll, die Spindrifts sehr unangenehm. Zumindest bleiben uns die Gefahren der Tageserwärmung erspart, da es bewölkt ist. Irgendwann am Nachmittag erreichen wir die Scharte am Ende des Eisschlauches. Dort erwartet uns eine sehr anspruchsvolle, ungute Seillänge. Wieder einmal klettert Timo durch das schwierige Gelände. Ich ziehe mich so schnell wie möglich und mit allen Hilfsmitteln nach oben. Plötzlich befinden wir uns auf dem Gipfelschneefeld, es sind nur noch circa 100 Meter nach links zum Gipfel Mushroom aus Eis und Schnee.

Am Gipfel des Cerro Standardt

Überraschend gutes Eis führt uns auf den Höchsten Punkt des Cerro Standhardt, 2650 Meter. Wir sind oben. Wir haben es tatsächlich geschafft, wieder erwarten. Nach einer Minute am Gipfel geht es schon wieder weiter. Es folgt eine Reihe von Abseilern in anspruchsvollem Gelände bei schlechten Witterungsverhältnissen, Wind und hohe Luftfeuchtigkeit sind unsere Gegner. Alles vereist oder weht im Wind. Einmal eist sogar das Seil am Stand fest und wir müssen wieder hoch, um es zu befreien. Viel Zeit vergeht, der Abstieg in der Route ist anspruchsvoll. Wir sind schon etwas abgekämpft. Die kurze Nacht sowie die Kälte steckt in unseren Knochen. Der Wind bläst Schnee von unten herauf und erschwert die Orientierung. Die Sonnenbrille ist nutzlos. Sie ist vereist, wie alles andere auch, und kann somit unsere Augen nicht vor Wind und Wetter schützen. Die Abseilstände gilt es kritisch zu prüfen! Nicht alle sind gut, einige sogar von eher schlechter Qualität. Irgendwann ist es dann geschafft, wir stehen wieder bei unseren Stöcken am Beginn der Kletterei. Eine kurze Pause und weiter geht´s. Es folgt der Abstieg über den steilen Gletscher und danach weiter zum Nipo Nino Camp. Dieses erreichen wir gegen 23 Uhr. Etwas Tee kochen, eine Kleinigkeit essen, und schon ist es wieder extrem spät. Um ein oder zwei Uhr morgens fallen wir ins Zelt und in einen tiefen Schlaf. Kein Wunder, ein 22 Stunden Klettertag und ein 7 Stunden Marsch mit nur einer Stunde Schlaf, oder besser “ruhen” dazwischen, fordert nun seinen Tribut.

Der lange Weg zurück nach Chalten

Um 11 Uhr vormittags wachen wir halbwegs ausgeruht und völlig ausgetrocknet auf. Wir haben während der Tour viel zu wenig getrunken. Im Camp geniessen wir noch ein bisschen die Sonne, bereiten uns ein spartanisches Frühstück zu und machen uns um 14 Uhr auf den Weg zurück ins Dorf. Zuerst über den Gletscher, dann über die miese Moräne, dann noch über den Bach via Tyrolien, somit ist das gröbste geschafft. Wir sind am Touristenhighway! Noch neun Kilometer, circa 2,5 Stunden mit dem großen Rucksack, dann sind wir im Centro Alpino, unserer Unterkunft.

Es ist geschafft! Von Anfang an hatten wir der Unternehmung wenige bis keine Erfolgschancen eingeräumt und den Umkehrpunkt immer weiter nach hinten verschoben, bis wir am Gipfel des Cerro Standhardt standen und der einzig mögliche Weiterweg wieder nach unten führte.